Wassermanns Paradies

Leseprobe (leicht gekürzt)

Find the door to the promised land
Just believe in yourself
(Send me an angel / Scorpions)

35. Magische Bücher
Wäre die Erde wirklich ein Lebewesen, Anna, hätte es unter dem Schmerz der Explosion von Hiroshima nicht aufschreien müssen? Nein, meine Ideen waren nichts als nutzlose Gedanken vor dem Hintergrund eines nicht wirklich ausfüllenden Berufslebens und der Konflikte im Privaten.

Dass ich sie mir in den folgenden Wochen nicht völlig aus dem Kopf schlug, war Susannes Buchladen zu verdanken. Einige Wochen zuvor hatte Susanne Paulus die erste Buchhandlung in Neu-Anspach eröffnet, ein kleines Geschäft im hintersten Eck der Rathausgasse, kurz vor jener Stelle, wo der im Ortskern verrohrte Lauf der Usa wieder aus seinem unterirdischen Betonkorsett heraustritt.

An jenem Morgen führte mich nicht ein Buchwunsch, sondern der schnöde Mangel an Bleistiften zum ersten Mal zu Susanne Paulus.

Gerade war ich dabei, mich zum wiederholten Male über die kitschige Benennung der Buchhandlung zu belustigen: ‚Susannes Magischer Buchladen‘ stand auf einer steinernen Tafel über dem Eingang. Das Wort ‚Magischer‘ war dabei aus unerfindlichen Gründen großgeschrieben, es wirkte alt, wie schon lange verblasst und notdürftig wieder aufgefrischt.

Seltsam, dachte ich gerade beim Blick auf das tönerne, neben dem Eingang angeschraubte Hausnummern-Täfelchen, weil es die 27 zeigte, als mein Blick flüchtig auf die Schaufensterauslage fiel und dann magnetisch an einem darin exponierten Buch hängen blieb. Wie ein elektrischer Schlag ließ mich der Buchtitel mitten in der Bewegung verharren: ‚Gaia - Die Erde ist ein Lebewesen’ stand dort überdeutlich in goldenen Lettern auf dem Sachbuch, das kein Esoteriker, sondern ein englischer Naturwissenschaftler – ein Chemiker wie ich – geschrieben hatte: James Lovelock!
Warum hörte es bloß nicht auf? Warum ließ das zerrende Etwas mich nicht in Frieden, warum lauerte es nicht nur in mir, sondern überfiel mich jetzt auch aus den Auslagen drittklassiger Dorfbuchläden?“


Ich verstehe immer noch nicht,
warum mir in diesem finsteren Loch
von einer Bibliothek so wohl ist

(Das Lächeln der Vergangenheit, Barbara Hodgson)

36. Tangerine Dream
„Meine Knie zitterten, als ich den Laden betrat. Ich war der einzige Kunde, und die ebenfalls einzige Bedienung - Susanne Paulus konnte sich kein Personal leisten - trug gerade einen Stapel fliegender Blätter des ‚Taunus-Boten’ sowie eine Kiste mit preiswerten, nostalgischen Füll-Federhaltern made in Korea zum ‚Greif-zu’-Regal neben der Tür. Natürlich verwehte der Windzug beim Öffnen der Tür die losen Blätter noch mehr, und das Kistchen mit den Federhaltern rutschte der Trägerin aus der Hand. Beim Anblick dieser magischen Susanne klang mir flüchtig die Melodie des alten Leonhard-Cohen-Songs in den Ohren: ‚Suzanne‘. Ich half ihr beim Aufsammeln, und so entstand ein kleines Gespräch, das Susanne seltsamerweise mit den Worten begann: ‚Vielen Dank, Herr Wassermann, es geht schon! Aber ihr Besuch freut mich! Ich habe mich schon oft gefragt, wann Sie mein kleines Geschäft mal beehren.‘ Ich schaute sie irritiert an, doch Susanne kam meiner Frage, woher sie denn meinen Namen kenne, mit einem Wink auf das Regal ‚Bildbände, Fotografie‘ zuvor. Dort stand ganz vorn ‚Das Watt - Zauberspiegel des Lichts‘, … das mich in der kurzen Vita unter meinem Konterfei als Neu-Anspacher Mitbürger auswies.

Noch etwas irritierte meinen vordergründig negativen Eindruck: Es duftete nach Tee, der mit Orangenblüten parfümiert war, und das weckte angenehme Erinnerungen an weitere sinnliche Düfte, an einen frühlingshaften Park und ein Rattantischchen. Susannes Buchladen lief noch nicht so recht - er würde es auch nie tun, dessen war ich mir sicher -, und die optimistische Inhaberin verwöhnte ihre abzählbare Kundschaft mit kleinen Zuwendungen ‚zur Eröffnung‘, die nun schon seit mindestens acht Wochen anhielt.
Heute reichte sie Tee und dazu Kleingebäck. Dankend nahm ich an, wanderte mit der zierlichen chinesischen Porzellantasse in der Hand, die Neukunden als kleine Aufmerksamkeit des Hauses geschenkt bekamen, höflich ein wenig an den Regalen entlang und schaute mich interessiert tuend um, ohne irgendein weiteres Buch zu entdecken, das meinen Interessen entgegenkam. Doch zartbitterer Tee, sanft-süßes Gebäck und damit verbundene Erinnerungen an Rattantischchen und Fliederduft hoben wohl meine Stimmung ein wenig, und ich muss gedankenverloren leise vor mich hin gepfiffen haben. „Ah, Sie mögen Cohen?“ kam es plötzlich hinter dem Regal hervor, wo Susanne Paulus mit dem Einsortieren von Büchern befasst war. „Das war doch ‘Suzanne’, nicht wahr, was Sie da gerade gepfiffen haben? Ich mag das Lied natürlich besonders. Sie wissen ja sicher vom Ladenschild, wie ich heiße“.

„Den meisten gefällt es ja nicht, Ihnen geht es wahrscheinlich auch so, oder?“ kam sie gewinnend kleinmütig meinen bedrohlich kurz vor der Aussprache stehenden abfälligen Bemerkungen zuvor, als hätte sie diese vorausgeahnt. „Na ja, so möchte ich das nicht sagen“, antwortete ich mit anhaltender Verlegenheit und stellte meinerseits die Frage: „Wieso denn ‚Magischer Buchladen’“?
„Ach“, erwiderte Susanne lachend, „diese ‚Magie‘ ist nur ein Relikt aus früheren Tagen. In den Räumen befand sich früher die Metzgerei Magischer. ‚Feine Fleisch- und Wurstwaren - Paul Magischer - Metzgermeister’ stand einmal auf dem Schild, war aber fast vollkommen abgeblättert, als ich den Laden übernahm. Gerade als ich im Begriff gewesen war, die letzten Spuren des blutigen Handwerks zu tilgen, fiel mein Blick nochmals auf des Fleischermeisters Nachname, und so wurde in einer Sekunde aus ‚Susannes Buchladen’ eben ‚Susannes Magischer Buchladen’.“
Ich kaufte das wie von Zauberhand genau zum richtigen Zeitpunkt von der magischen Susanne ins Schaufenster gestellte Buch und verließ unter einem leicht stotternd vorgetragenen ‚Auf Wiedersehen!‘, das mit einem freundlichen ‚Ja, darüber würde ich mich sehr freuen!‘ beantwortet wurde, das kleine Geschäft, wo ich den eigentlichen Grund meines Kommens vergessen hatte, die Bleistifte nämlich.

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